Warum Völkerhass niemals nützlich sein kann
Nicht erst seit dem Überfall auf die Ukraine, aber seitdem noch vehementer,werden die Russen als Quelle allen Übels angesehen. Was bedeutet das für dieMöglichkeit, den Krieg zu beenden?
Von EUGEN RUGE
Vor drei Jahren veröffentlichte ich einen Roman, dem die deutsche und internationale Presse, soviel Unbescheidenheit sei erlaubt, bescheinigt hat, dass er den stalinistischen Terror auf eindrückliche Weise erlebbar mache. Die erste Übersetzung von „Metropol“ kam in Russland heraus – was nicht heißen soll, dass diese Art von Literatur in Russland besonders beliebt wäre. Sogar in Vietnam erschien das Buch. Und natürlich in mehreren westeuropäischen Ländern. Jedoch in keinem osteuropäischen Land, in keiner ehemaligen Sowjetrepublik, obgleich ich eigentlich gedacht hatte, dass der Stalinismus dort Thema wäre. Mein Roman spielt zur Zeit der großen Terrors. Eine der Hauptfiguren ist Wassili Wassiljewitsch Ulrich, Vorsitzender Richter der Schauprozesse, der tatsächlich innerhalb von drei Jahren 31.456 Todesurteile unterschrieben hat. Allerdings war er, wie sein Name verrät, Lette. Nicht Russe.
Bevor ich fortfahre, fühle ich mich zu einem Bekenntnis verpflichtet: Ich bin Halbrusse. Nicht freiwillig, versteht sich. Sondern weil mein Vater 1933 aus Hitlerdeutschland in die Sowjetunion floh, wo er sich nach dem Überfall Deutschlands plötzlich im Ural, in der sogenannten Arbeitsarmee wiederfand; faktisch unter GULag-Bedingungen überlebte er mitknapper Not, heiratete in der anschließenden Verbannung eine Russin. Ich kam mit zwei Jahren nach Deutschland. Ich hatte nie einen russischen Pass. Vermutlich hätte ich das Recht zu behaupten, dass ich Deutscher bin. Trotzdem habe ich, wenn ich mich hier zu Wortmelde, das Gefühl, ich dürfe die „Schande“ meiner Geburt nicht unterschlagen.
Das Gefühl der Unterschlagung hatte ich früher schon, wenn ich mit Osteuropäern zusammentraf, die mich als „reinen“ Deutschen wahrnahmen. Das war kein Nachteil, denn alles Deutsche stand hoch im Kurs. Von den Verbrechen der Deutschen war erstaunlicherweise kaum die Rede. Stattdessen – und ich weiß, dass mancher Ostdeutsche ähnliche Erfahrungen gemacht hat – spülte die Schnapsseligkeit gelegentlich Sprüche hoch, die man vor Schreck lieber gleich vergaß, um nicht in Konflikt mit seiner antifaschistischen Erziehung zu geraten. Die Russen dagegen wurden in vielen Teilen Osteuropas gehasst. Aber ist das nicht verständlich – nach jahrzehntelanger Besatzung, nach Schauprozessen und Deportationen?
Lauter nichtrussische Akteure im stalinistischen Apparat
Es ist keine Erfindung des Autors, dass der Vorsitzende Richter der großen Moskauer Schauprozesse ein Lette war. Auch Andrej Wyschinski, der Staatsanwalt, der die Prozesse in Wirklichkeit leitete, war nicht eigentlich Russe, sondern der in Odessa geborene Sohn eines polnischen Katholiken. Stalin war bekanntlich Georgier. Und überhaupt wimmelte es im Apparat von nichtrussischen Akteuren.
Es war ja vor allem das NKWD, das Stalins Terror verwirklichte. Es verhaftete, folterte, erschoss, organisierte die Deportation von Millionen Menschen. In dem von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial herausgegebenen Handbuch „Wer leitete das NKWD“ findet man, nach Jahren aufgelistet, die nationale Zusammensetzung der Leitung dieser berüchtigten Geheimpolizei. Aber was schließt man daraus, dass 1936, zum Auftakt des großen Terrors, fast 39 Prozent davon Juden sind (die in der Sowjetunion als Nationalität geführt wurden)? Der Terror: eine jüdische Verschwörung? Nur, was bedeutet es, dass ihre Anzahl bis 1941 auf 5,5 Prozent schrumpft? Während umgekehrt die Zahl der Ukrainer von fünf auf fünfzehn Prozent ansteigt?
1941 sind die Russen mit 64 Prozent in der Überzahl, proportional etwas über ihrem Bevölkerungsanteil in der Sowjetunion; allerdings sind im Zentrum der Macht, in Stalins neunköpfigem Politbüro, zu dieser Zeit nur drei Russen vertreten. Ein Mitglied ist Armenier, und vier, nämlich Schdanow, Woroschilow, Kaganowitsch und Chruschtschow, stammen aus der Ukraine. Und nie ist, nebenbei gesagt, die Sowjetunion länger von einer „Nationalität“regiert worden als von den Ukrainern Chruschtschow und Breschnew.
Es ist unbestreitbar, dass das Zarenreich ein russisches Imperium war, ein Kolonialreich, auch wenn Migration und Expansion der Rus von Kiew aus verschiedene Gesichter und Phasen hatten. Nach Osten hin: der Kampf gegen Tataren und Osmanen. Ein Gebiet wie das Estlands wurde im Nordischen Krieg dem schwedischen Imperium abgerungen. Das erste unabhängige kosakische Hetmanat in dem Territorium, das man Ukraina (altrussisch für „Grenzland“) nannte, unterstellte sich 1648, nachdem es sich von Polen befreit hatte, der Oberherrschaft und dem Schutz des russischen Zaren. Der Rest könnte komplizierter nicht sein. Am Ende stand zweifellos ein Völkergefängnis, ein zentralistischer Einheitsstaat, in demdas russische Element alles dominierte.
Resultat des Scheiterns der Weltrevolution
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Geschichte, dass ausgerechnet die Bolschewiki eine föderalistische Struktur schufen, die – formal – der Selbstbestimmung der Völker Ausdruck gab. Davon darf man sich nicht irritieren lassen. In Wirklichkeit war ihre Nationalitäten-politik, schlicht gesagt, verlogen. Denn natürlich sahen die Revolutionäre die Lösung aller Probleme nicht in der nationalen Befreiung, sondern in der Befreiung der Arbeit vom Kapital; wer das nicht versteht, hat vom Bolschewismus nichts verstanden.
Der Kommunismus war, wie Hannah Arendt in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ schreibt, eine Bewegung, die sich internationale Ausmaße und Bedeutung zuschrieb. Lenin und seine Leute glaubten fest an die unmittelbar bevorstehende Weltrevolution, die alle Proletarier der Welt befreien und vereinen würde. Selbstverständlich dachten sie nicht daran, die bereits vom Joch des Kapitalismus befreiten Gebiete des Reichs wieder dem Kapitalpreiszugeben, sondern versuchten, in Europa und der Welt den großen revolutionären Brand zu entfachen.
Bekanntlich hat der Brand nicht stattgefunden. Es war Stalin, der die angebissene Weltrevolution auf den Kurs „Sozialismus in einem Land“ brachte. Tatsächlich war er dafür auf fatale Weise der richtige Mann. Ein ehemaliger Priesterschüler, orthodox, halbgebildet, gerissen, geplagt von Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber den eloquenten kosmopolitischen Genossen. Ausländer verdächtigte er, war überdies Antisemit; er schlug großrussische Töne an, mobilisierte Gründungsmythen, um den Zusammenhalt des nunmehr entstandenen bolschewistischen Imperiums zu stärken – und damit seine persönliche Macht.
Stalins Verbrechen sind kaum zu zählen. Er ließ die alte Garde der Kommunisten vernichten (die ihrerseits nicht zimperlich gewesen war). Er rächte sich an den abgefallenen baltischenVölkern. Er versuchte Finnland wiederzuerobern. Er ließ die deutsche Minderheit unterdrücken, die Krim-Tataren deportieren und vieles mehr. Aber er ließ genauso auch Russen foltern, erschießen, deportieren, wie sich mit Zahlen belegen lässt.
So befanden sich 1939, nach der großen Verhaftungswelle, 810.000 Russen im GULag –naturgemäß mehr als Häftlinge aller anderen Ethnien, aber auch, wenn man die Zahl ins Verhältnis zum Bevölkerungsanteil setzt, mehr als zum Beispiel Ukrainer, nämlich 0,81gegenüber 0,64 Prozent der jeweiligen Bevölkerungsstärke – man verzeihe mir diese kalte Rechnung. Weder das russische Volk noch irgendein anderes hat Stalin gewählt odereingesetzt oder sonst wie befugt zu tun, was er getan hat. Und nichts von dem, was Stalin tat, tat er als Russe, nicht im Auftrag des russischen Volkes, nicht zu dessen Vorteil.
Ein nationaler Blick geht an der Sache vorbei
Der nationale Blick geht einfach am Wesen der Sache vorbei. Das Beispiel Holodomor ist inzwischen so aufgeladen, dass man sich kaum getraut, an Tatsachen zu erinnern. Selbstverständlich war der langjährige Krieg der Bolschewiki gegen die Bauern (der schonunter Lenin begann!) eines der widerwärtigsten Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts. Es fand seinen Höhepunkt in Stalins Versuch, eine entmenschlichte Politik der Industrialisierung auf Kosten der vermeintlich reaktionären Bauernklasse durchzuprügeln. Die Getreideabgaben, mit Waffen erzwungen, führten zum Erliegen der Produktion.
Die Zwangskollektivierung wuchs sich, statt die Lage zu verbessern, zu einer Mord- und Totschlagaktion gegen sogenannte Kulaken aus (mithin gegen jeden, der noch irgendetwas erwirtschaftete). Die Katastrophe nahm ihren Lauf. Von Kiew bis Orenburg, von Tbilissi bis Samarkand hungerten die Menschen, am schwersten gerade in den landwirtschaftlich-bäuerlichen Gebieten. Die meisten der womöglich bis zu sieben Millionen Opfer des Holodomor – nämlich an die drei Millionen – waren Ukrainer! Aber auch im weit weniger bevölkerten Kasachstan starben eineinhalb Millionen Menschen, es starben Russen im fruchtbaren Kuban, sogar in Georgien wurde gestorben. Wie gelingt es einem Historiker, ausdieser Tragödie ein exklusives nationales Opferanrecht zu schließen?
Der Stalinismus war keine Diktatur der Russen über Ukrainer oder Balten. Er war die Diktatur eines Psychopathen, gegründet auf das verheerende bolschewistische Konzept einer Parteidiktatur, die beanspruchte, eine Diktatur des Proletariats zu sein: Das ist, ohne hier eine weitere Analyse anzustrengen, der Kern des Stalinismus. Und auch wenn ich die nachstalinistische Sowjetunion deutlich von den Terrorjahren unterscheiden will: Der Gedanke ist nicht leicht zu ertragen, dass der verkrüppelte Sowjetkommunismus die halbe Welt in seinen Bann schlug, dass er Anhänger, Freunde fand; dass er Osteuropa und Ostdeutschland nicht nur unterwarf, sondern sich dort auf Mitläufer, Karrieristen und sogar ehrliche Gläubige stützen konnte – wie auch in allen ehemaligen Sowjetrepubliken.
Das hört man nicht gern. Leichter ist es, alles auf den Russen zu schieben. Der ist böse, gefährlich, primitiv. Dreißig Jahre lang haben die Osteuropäer uns vor ihm gewarnt: Seine Reden sind Lügen, seine Angebote vergiftet. Mit ihm könnte es keine Kooperation geben, denn in Wirklichkeit hätte er nichts anderes vor, als die Nachbarvölker zu überfallen und zu unterjochen.
Aber hatten sie nicht recht? Denn der Überfall auf die Ukraine ist, wer wollte das bezweifeln, kein sowjetischer, sondern ein russischer Überfall. Heißt das, dass die jahrzehntelangen Ressentiments gegen die Russen berechtigt gewesen sind? Wird die ethnisch zugespitzte Geschichtsdarstellung nachträglich wahr? Waren Hass und Abweisungen vorausfühlend und angemessen, weil Russland sowieso von Anbeginn den Krieg geplant hätte? Und jetzt, wo Krieg ist: Helfen wir den Ukrainern nicht wenigstens, ihn zu gewinnen, indem wir sie in den überkommenen Projektionen bestärken? Gibt es einen berechtigten Nationalismus? Einen nützlichen Völkerhass?
Die deutsche Erleichterung über den russischen Buhmann
Ich hätte niemals geglaubt, dass in Deutschland, wo inzwischen schon die Frage nach der Herkunft eines Menschen als rassistisch gilt, russische Speisekarten attackiert werden könnten. Dass deutsche Moderatoren die Sympathie eines Botschafters für einen profaschistischen Judenmörder verzeihlich finden könnten. Dass in deutschsprachigen Zeitungen die Werke von Tolstoi bis Brodsky in toto als Literatur der Mörder und Vergewaltiger angeklagt werden könnte, wie es die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sa-buschko in der „Neuen Zürcher Zeitung“ tut, weil diese Literatur den Boden für die Morde von Butscha bereitet habe, und die russischen Verlage von einer deutschen Buchmesseausgeschlossen werden könnten.
Nicht einmal die deutsche Literatur ist, während die Nazis in Europa und der Welt wüteten, auf solche Weise generalverdächtigt worden. Ja, fast glaubt man in Deutschland so etwas wie Erleichterung darüber zu spüren, dass sich der wahre Charakter des Russen nun endlich offenbart hat und dass, endlich, 77 Jahre danach, die Zeichen historischer Schuld an der Stirneines anderen erscheinen.
Ich übertreibe? Man sehe sich die Tagesschau vom 28. April 2022 an. Sie berichtete ausführlich vom „Marsch der Lebenden“ in Auschwitz. Nur wenige Überlebende marschierten noch mit, dafür ukrainische Flüchtlinge. Ein vierzehnjähriges jüdisches Mädchen, die eine große ukrainische Fahne vor dem „Arbeit macht frei“-Tor in Auschwitz-Birkenau schwenkt, wird effektvoll in Szene gesetzt und darf anschließend vor der Kamerasagen, dass sie sich mit dem Holocaust beschäftigt habe und der Genozid, der damals passierte, im Prinzip das Gleiche wäre wie das, was die Russen jetzt in der Ukraine machten.
Vier deutsche Schriftsteller, darunter ich, haben gegen diesen groß ausgestellten Auschwitzvergleich eine Programmbeschwerde angestrengt. Unsere Bedenken wurden vom ARD-aktuell-Chefredakteur in sieben Zeilen weggewischt: Der Beitrag spiegele „eine dort geäußerte Meinung wider“ und sei zumutbar, weil ein Holocaust-Überlebender die Sache später richtigstelle. Tatsächlich bekommt kurz vor dem Ende des insgesamt anderthalbminütigen Beitrags ein sechsundneunzigjähriger KZ-Überlebender noch sechs Sekunden Zeit, um mit bebender Stimme auf Englisch zu sagen, dass diese Dinge nichts miteinander zu tun hätten.
Nicht nur für ihn, liebe Tageschau. Die Nazis haben sechs Millionen Juden ermordet. Und vierzehn Millionen sowjetische Zivilisten, um nur zwei Zahlen zu nennen. Hier geht es – und nicht nur wegen dieser Zahlen – um ein singuläres Verbrechen von unvorstellbarem Ausmaß, dessen Relativierung in Deutschland zu Recht verpönt und verboten ist. Aber abgesehen davon, dass man sich mit solchen Vergleichen auf eine Stufe mit den Unbelehrbaren und Fühllosen stellt, sind sie gefährlich.
Koste es, was es wolle
Ob gewollt oder nicht: Das Narrativ des Großen Bösen blockiert jeden Diskurs. Es verstellt der europäischen Politik jeden Handlungsspielraum. Unmöglich, etwa Interessen zu analysieren oder Widersprüche aufzuzeigen. Über Auschwitz lässt sich nicht verhandeln. Mit einem neuen Hitler gibt es keinen Vertrag. Mit einem Volk, das bis in seine Nationalliteratur verrottet ist, gibt es keine Möglichkeit der Verständigung. In diesem Narrativ gibt es nur Kampf bis zum Sieg, koste es, was es wolle. Und je länger diese Form von Gruppenzwang anhält, desto schwieriger wird es, da wieder herauszukommen.
Es gibt einen europäischen Politiker, der es gleich zu Beginn des Kriegs versucht hat. Und das war erstaunlicherweise Wolodymyr Selenskyj! Nämlich als er Russland unmittelbar nachdem Überfall Verhandlungen über dessen Forderungen anbot: ukrainische Neutralität, Abtretung der Krim, Autonomie für den Donbass. Es war vielleicht der gefährlichste Momentseines Lebens. Aber allein diese unglaubliche, diese heldenhafte Geste zeigt, dass eine Erweiterung der Perspektive denkbar ist, denkbar war. Unterstützt hat ihn damals niemand, im Gegenteil. Unterstützt wurde und wird die Fortsetzung des Kriegs, und zwar bis zum ukrainischen Sieg. Erst dann soll verhandelt werden. Worüber?
Ja, vielleicht ist es möglich, Russland in einem mehrjährigen Krieg zu zermürben. Vielleicht ist es möglich, diesen zweifellos völkerrechtswidrigen, brutalen Krieg mit militärischen Mitteln zu beenden. Vielleicht wird Putin gestürzt. Obgleich man sich fragen muss, von wem: von der russischen Bevölkerung? Von jenen Menschen, deren Literatur wir als menschenfeindlich beschimpfen? Die für Holodomor und Roten Terror kollektivverantwortlich sind? Die wir seit Jahren sanktionieren? Oder doch eher von seinen Generälen? Ich weiß es nicht. Ich irre mich gern. Ja, vielleicht ist ein Sieg möglich. Hoffentlich wird es kein Pyrrhus-Sieg. Danach sieht es allerdings jetzt schon aus, sowohl für Europa als auch für die Ukraine.
Eugen Ruge, geboren 1954 im russischen Soswa, ist Schriftsteller. 2011 gewann er für „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien 2019 sein Roman „Metropol“ (Rowohlt).
Quelle: F.A.Z.
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